Prof. Dr. Steiner: Ein Geheimnis sieht dich an

Um den Oberrhein, im Herzen Alemanniens, erheben sich drei runde,  oft schneeglänzende Berge, die alle Belchen heißen. Der Name stammt aus dem keltischen und meint "glänzend". Der Belchen im Schwarzwald, der in den Vogesen, auch Ballon d´Alsace, genannt, und der im Schweizer Jura südlich von Basel, die Belchenflue. Sie liegen so zueinander, dass man zum Anfang von Frühling und Herbst, bei der Tag- und Nachtgleiche die Sonne jeweils hinter dem gegenüberliegenden Berg in den Vogesen oder im Schwarzwald auf bzw. untergehen und bei der Wintersonnwende die Sonne von den Vogesen aus über dem Schweizer Belchen aufgehen sieht. Derartige Peilungen auf den Sonnenstand sind seit der Jungsteinzeit bekannt. Das berühmteste Baudenkmal einer Sonnenstandspeilung ist der Steinkreis von Stonehenge (um 3000 v.Chr.), der wegen seiner esoterischen Aufladung und Massenanziehung heute für Besucher gesperrt ist. Auch die Nazca Linien in Südamerika, die vor 3000 Jahren im Wüstenboden angelegt wurden, weisen auf Fixpunkte der Sonnenwende. Das Gebiet zwischen den drei oberrheinischen Belchen wird heute als Belchendreieck beworben. Das Münster von Basel ist sein Mittelpunkt.

Zeigen durch Verhüllen
Dass auf Berggipfeln Kreuze stehen ist in Deutschland und Österreich allgemein üblich, so selbstverständlich, dass sie als religiöse Zeichen kaum mehr wahrgenommen werden, sondern einfach als Markierung. In Frankreich stehen Masten oder Pfosten auf den Gipfeln, kaum je ein Kreuz, eher eine Lourdesmadonna in einem Kapellchen auf der Passhöhe. Am badischen Belchen hat Marco Schuler im Dezember 2011 das Gipfelkreuz in einem Gehäuse verborgen, einem massiven, fünf Meter hohen, oben offenen Holzhaus, das mit zwei runden Augen nach vier Richtungen schaut. Am 2. August wird Erzbischof Robert Zollitsch hier einen Gottesdienst feiern, danach wird das Gehäuse wieder abgebaut, das Kreuz wieder freigelegt. Das Holzgehäuse nennt der Bildhauer "Orbi" (lat. dem Erdkreis) nach dem Segenspruch des Papstes, welcher der Stadt und dem Erdkreis (urbi et orbi) seinen Segen spendet. Das Wort Erdkreis ist angesichts der runden Bergkuppe und dem weiten Blick von dort aus über Baden, das Elsass, die Schweiz bis zur Alpenkette sinnvoll. Es bezieht sich aber auch auf den Papst, nämlich den Besuch Benedikts XVI. in Freiburg. Für die Großveranstaltungen bei diesem Besuch wurden 5000 massive "Papstbänke" hergestellt, gesägt aus Tannen und Fichten des Schwarzwalds. Sie wurden nach dem Papstbesuch verkauft und fanden als Gartenbänke und Andenken reißenden Absatz. Marco Schuler hat aus 24 Papstbänken sein Holzhaus gebaut. Sechs Bänke an Betonwürfeln montiert bilden eine Seite. Das Gehäuse hat kein Fundament, denn es soll Ende August wieder spurlos verschwinden.

In jede Seite des viereckigen Bankblocks hat Schuler zwei kreisförmige Löcher gesägt. Aufgerichtet erscheinen sie oben und damit wie menschliche Augen in prähistorischen Idolen, z. B. aus dem syrischen Tell Barak, 3000 v.Chr. Als bannende, Unheil abwehrende Zeichen gibt es Augenpaare in vielen Kulturen, auf griechischen Trinkschalen, in der ägyptischen und islamischen Kunst, aber auch in der Natur auf Schmetterlingsflügeln, die wie das Gesicht einer Katze gemustert sind und so Vögel abschrecken. Dem aufgerichteten Block verleiht das Augenpaar etwas rätselhaft Geisterhaftes. Aus der Nähe aber werden sie zu Öffnungen, man sieht durch die Holzaugen durch, auf den Himmel, auf den Kreuzbalken, morgens und abends scheint die Sonne durch. Die aufgestellten Bänke formen ein Haus ohne Türe und Dach, eine Gehäuse, das seinen Inhalt geheimnisvoll umhüllt und verbirgt. Bilder zu verhüllen, z.B. alle Altarbilder in einer Kirche, wie es früher in der katholischen Welt in der Fastenzeit üblich war, ist ein Mittel Spannung zu erzeugen. Das, was zu sehen verboten ist, reizt. In den Märchen vom Ritter Blaubart oder vom Marienkind riskieren die junge Braut und das Mädchen ihr Leben um zu sehen, was verboten ist. Die rituelle Verhüllung und Enthüllung zähmt, diszipliniert, sublimiert unsere Schaulust. Das Holzobjekt Orbi verbirgt, in dem es uns anschaut, fragend? drohend? freundlich? jedenfalls mehrdeutig. Das Augenpaar als Paar von Löchern hat Marco Schuler bereits in seinem "Sackgesicht" bearbeitet, einem großen dunklen Kunstledersack, der flach an der Wand hängt und oben zwei große sorgfältig gesäumte Löcher hat. Das fragend schauende Gegenüber des "Sackgesichts" ist in Orbi jetzt räumlich geworden, nach vier Seiten ausgerichtet und mit kosmischen und religiösen Bezügen aufgeladen.

Leben im Widerstand
Der Bildhauer Marco Schuler, 1972 im badischen Bühl geboren, nacheinander Ministrant, Sportler, Philosoph, studierte an der Münchener Akademie bei Olaf Metzel, war dort Assistent, gewann mehrere Förderpreise, lebte und arbeitete in Los Angeles und Krems, jetzt wieder in seiner badischen Heimat. Seit 2000 stellt er Videos her, in denen er selbst als Artist auftritt, z.B. bei dem Versuch sich in einem Windkanal anzuziehen. Der Kampf mit Hose und Hemd gegen einen Wind von 110 km/h ist ebenso komisch wie schrecklich, eine Bild der Mühsal des Lebens, eine Illustration zu Hiob (7,1). Ist nicht Kriegsdienst (Frondienst, Sklavenarbeit) das Leben des Menschen auf Erden??. In einem jüngeren Video sieht man den Künstler im roten Overall auf einen dünnen Baum klettern, der sich unter seinem Gewicht so zur Erde biegt, dass der kopfüber gestartete Kletterer kopfunter wieder am Waldboden ankommt. In einem anderen kriecht er durch ein Abflussrohr im Wald oder springt in einer Burgruine von Mauer zu Mauer, immer wieder, bis zur Erschöpfung. Alle Videos sind mit einer statischen Kamera aufgenommen, vor der Marco Schuler turnt, springt, kriecht, schwimmt, klettert bis zur Atemlosigkeit. Als Bildhauer baut er Objekte aus Holz, Aluminium, Eisen, Gummi und Styropor , die "Lakritz", "Sheriff", "Pilot", "Denker" heißen oder Eigennamen tragen, zum Lächeln ermuntern und auf Elemente der Hochkultur und der Subkultur verweisen. Der körperliche Einsatz, mit dem der Künstler seine Videoauftritte erarbeitet, ist auch bei seinen Reifenplastiken spürbar, aufgeschlitzte, umgestülpte, verknotete Gummireifen, die auf einem Sockel ausgestellt mit Verkehrstechnik und Körperkraft spielen. Sie heißen "Eichelhelm" und "Widderchen" und erinnern damit an Naturvorbilder, sind aber nicht als Abbildung entstanden sondern aus der Spannung des elastischen Materials. Leben als Widerstand, im Widerstand, könnte man das Grundthema seiner künstlerischen Arbeit nennen.

Die schweren massiven Bänke, zum ruhigen Sitzen geschaffen, jetzt auf ihr schmales Ende gestellt, zu Wänden und zum Viereck verbunden, haben auch mit Kraft zu tun, mehr aber noch mit dem Geheimnis des Verbergens und der Mitteilung in den ganzen Erdkreis.